Start in den Schulalltag

Veröffentlicht am 18. Oktober 2024 um 21:53

Zum ersten Mal nehmen wir die Perspektive des Lehrenden ein. Statt Wissen in uns aufzunehmen, versuchen wir, es weiterzugeben – über den Schulalltag, seine Hürden und prägende Augenblicke.

Vom Klassenclown zur Lehrperson

Für mich war die Schule hauptsächlich ein Ort, an dem ich mich freute mit meinen Freunden beisammen zu sein und viel lachen zu können. Das Aufnehmen von Wissen war oftmals nur Nebensache. Ich erinnere mich wahnsinnig gerne daran zurück. So viele Geschichten und Ereignisse, über die meine Freunde und ich uns heute, und vermutlich auch in 50 Jahren noch schlapp lachen können. Besonders meine Realschulzeit war dabei sehr prägend. Ich wurde ohne Grundschulfreunde in eine völlig fremde Klasse gesteckt und habe dabei Freunde für's Leben und meine Jugendliebe gefunden. Auszuholen würde jetzt den Rahmen sprengen, ich kann aber von Glück reden, dass ich meistens gerne in die Schule gegangen bin. Dass vorne ein Erwachsener seinem Job nachging  und versuchte mir etwas beizubringen, war eher nervig. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen es Lehrer geschafft haben, mit ihrer Menschlichkeit, Begeisterung und Humor meine Aufmerksamkeit auf den Unterricht zu lenken. Bei mir (und ich denke bei einigen anderen ebenso) war das Interesse an dem Fach und oft auch die (mündliche) Note eng an die Lehrperson geknüpft. Sehr schade im Nachhinein, da ich definitiv einige Wissenslücken eben aus jener Zeit aufweise, meist nur, weil ich den Lehrer "nicht ausstehen" konnte und der Unterricht oft aber auch (für mich) tot langweilig und einschläfernd war.

Mit diesen Erkenntnissen und Erinnerungen bin ich seit dem 09.09.2024 an einer Privatschule, hauptsächlich in einer fünften Klasse als Deutsch- und Mathelehrer, aktiv. Dazu sei gesagt, dass ich weder eine pädagogische Ausbildung noch wirklich Erfahrungen im Lehren besitze.  Dieser weitere Perspektivwechsel lässt mich meine früheren Lehrer so viel besser verstehen. Wie kriegst du nach einer Essenspause, in der die Kinder viel Zucker durch Süßigkeiten konsumiert haben, dementsprechend gepusht sind und alles lieber als Unterricht machen möchten, dazu, dir zuzuhören oder zumindest die anderen nicht zu stören? Durch solche und weitere Momente ist mein Respekt und Verständnis für Lehrer immens gestiegen. Denn ich merke, wenn dir dieser Job auch wirklich etwas bedeutet, ist dir auch viel daran gelegen, dass die Kinder einen qualitativ hochwertigen Unterricht bekommen, bei dem sie viel dazulernen können, um damit hoffentlich für weitere Schritte im Leben gewappnet zu sein. Dabei geht es aber um so viel mehr als reines Auswendiglernen und Unterrichtsinhalte zu vermitteln, wie ich zu spüren bekommen sollte. Diese Heranwachsenden nehmen mich nämlich (im Idealfall) als eine Autoritätsperson wahr, zu der sie aufschauen und von mir lernen möchten. Gleichzeitig den Spagat zu einer Nahbarkeit, Lockerheit und Spaß herzustellen, damit sie mir auch mit Freude folgen, ist bislang eine herausfordernde, aber weiterentwickelnde Aufgabe.

Strukturen

Wie bereits angesprochen umfasst unser Freiwilligendienst zusätzlich zum täglichen Fußballtraining am Nachmittag, das Unterrichten an einer Privatschule am Vormittag. Ich persönlich bin sehr froh über den Aspekt der Privatisierung, da die Klassen dadurch deutlich kleiner ausfallen. In meiner jetzigen fünften Klasse gibt es zwölf Schülerinnen und Schüler. Bei öffentlichen Schulen sind die Klassen teilweise um die 50 Kinder groß. Somit bleibt mehr Raum für Individualität und vereinfacht mir den Einstieg enorm.

In Ghana umfasst das Bildungssystem grundsätzlich drei verschiedene Arten von Schulen. Die Primary School (vergleichbar bei uns mit der Grundschule), die Junior High School (vergleichbar bei uns mit der weiterführenden Schule) und die Senior High School (vergleichbar bei uns mit dem Gymnasium). Wir sind an einer Primary School, die zusätzlich noch eine Art Kindergarten für die ganz Kleinen beinhaltet. Es gibt Klassen von 1 - 6. Wenn die finalen Prüfungen in der sechsten Klasse geschafft wurden, kann man theoretisch auf die Junior High School wechseln. Vorausgesetzt, dass die Eltern sich das leisten können. Und so viel sei gesagt, ich sehe täglich einige Kinder und Jugendliche, die dieses Privileg nicht genießen dürfen.

Der Unterricht und somit unser Arbeitstag beginnt laut Stundenplan um 8:00 Uhr. Dies wird jedoch von den verschiedenen Lehrern unterschiedlich interpretiert. Wie das hier eben so mit der Zeit ist. Jeden Vormittag übernehme ich den Matheunterricht. Zusätzlich geben wir zwei bis dreimal die Woche Deutschkurse. Die übrigen Fächer wie Science, English oder History übernimmt der eigentliche Klassenlehrer. Dabei sitze ich daneben, höre zu oder korrigiere aufgegebene Haus- oder Schulaufgaben. Alternativ gehe ich auch einer Beschäftigung am Handy nach, wie einer meiner Schüler skizziert hat.

Gleichzeitig geben wir Schülern, die nicht Lesen und/oder Schreiben können Extra-Unterrichtsstunden, damit sie mit dem zukünftigen Unterricht Schritt halten können. Hier ist es nämlich nicht unüblich, dass Kinder (vermutlich aus Kostengründen) erst zu späteren Klassen dazustoßen und somit die Grundlagen nicht beherrschen.

Zwischen 10:00 und 10:30 gibt es eine kleine Snackpause, in der die Kinder sich beim Kiosk vor Ort hauptsächlich (leider) nur mit Süßigkeiten eindecken können. Um ca. 12:30 ist dann Lunch angesagt. Entweder wird das von zuhause mitgebrachte Essen verspeist oder es wird sich in der schuleigenen Kantine versorgt, bei der auch wir unser Mitagsessen zu uns nehmen. Das ist oft eines der Highlights am Tag, da das Essen im Vergleich zu unseren sonstigen Verköstigungen qualitativ hochwertiger ist. Anschließend geht es für uns nach Hause um sich noch kurz für das nachmittagliche Training auszuruhen.

Meine Rettung

Ich kann ohne zu übertreiben sagen, dass diese Schule das gesamte Projekt und mein Vorhaben für mich gerettet hat. Ich glaube ihr konntet aus meinen vorherigen Einträgen eine Unzufriedenheit erkennen. Ich war ihr täglich gegenübergestellt. Jeden Vormittag Freizeit zu haben, war auf kurze Sicht sehr entspannt, aber nach einiger Zeit sehr zermürbend. Jetzt einen Grund zu haben, früh aufzustehen und sich gebraucht zu fühlen, hat mir neue Energie und wieder mehr Freude bereitet. Neue Eindrücke zu gewinnen, neuen Menschen zu begegnen und eine neue Aufgabe zu übernehmen war sehr wertvoll für mich und dafür bin ich sehr dankbar. Ich wurde regelrecht ins kalte Wasser geworfen und fand mich am ersten Schultag, völlig unvorbereitet und kurzzeitig überfordert, vor einer neuen Klasse wieder, als der Klassenlehrer meinte: "You can take the next lesson." Kurz im Buch über das momentane Thema informiert und Freestyle versucht den Unterricht zu rocken. Das anschließende Gefühl, das Beste aus der Situation rausgeholt und dabei sogar Spaß gehabt zu haben, war umso erfüllender. Die Kinder haben es einem anfangs aber auch unfassbar einfach gemacht. Die meisten hatten strahlende Augen, als sie realisierten, dass jetzt "Obronis" (Weiße Personen) an ihrer Schule lehren. Diesen Vertrauensvorschuss möchte ich natürlich auch zurückzahlen.

Viele waren und sind bis heute so aufgeregt und freuen sich wenn wir auf den Schulhof kommen, umarmen uns oder klatschen in unsere Hände ein. Einige sind auch immer sehr interessiert beispielsweise was es bei uns in Deutschland zu essen gibt oder wie Schnee aussieht. Max nimmt sich dessen des öfteren an und versucht ihnen mit Bildern und Erzählungen einen Eindruck zu geben.

Aber auch die Lehrer und der Schuldirektor nahmen uns herzlich in ihrer Schule und den Klassen auf. Sie gingen bis jetzt auf alle unsere Wünsche ein und es herrscht ein gutes Miteinander. Natürlich sind die Lehrer auch froh, wenn wir ihnen unentgeltlich ein wenig Arbeit abnehmen.

Der Unterricht

Folgende Eindrücke oder generell alle Eindrücke spiegeln meine erlebten Situationen, aber auch Erzählungen von anderen Freiwilligen, sowohl von Max und Samuel, aber auch von anderen, hier in Ghana Lebenden wider. Dabei kann ich nie ein Gesamturteil für alle Schulen, Unterrichtseinheiten oder Prinzipien des gesamten Landes geben. Ich hoffe, das ist klar, sei hier aber nochmal betont.

Das Bildungssystem von Ghana ist immer noch sehr geprägt von der damaligen britischen Kolonialzeit. Die Sprache des Unterrichts findet auf Englisch statt. Die Unterrichtsform findet hauptsächlich frontal statt. Es fand bislang keine Art von bspw. Gruppenarbeiten statt. Die genutzten Medien beschränken sich auf Schulbücher und die Tafel. Hierfür sind die Möglichkeiten auch begrenzt. Generell wird hier ein großer Wert auf Definitionen gelegt. Der Lehrer fragt also "Was ist oder bedeutet XY?" und die Kinder antworten dann "XY bedeutet oder ist ...". Anschließend werden die definierten Themen zum Abschreiben an die Tafel geschrieben und zusätzliche Aufgaben gegeben, indem das Besprochene nochmals wiederholt wird. Vereinzelt kommen sehr simple Anwendungsaufgaben hinzu, bei denen die Definitionen durch Beispiele untermauert werden. "Nenne drei verschiedene Arten von XY". Meine subjektive Meinung: Es wird viel zu wenig Wert auf die persönliche Entfaltung und das Anregen des individuellen Denkprozesses gelegt. Die Kinder sollen größtenteils vorgegebene Muster auswendig lernen und dieses Programm immer und immer wieder abspulen. Dabei bleibt beispielsweise das logische Denken teilweise völlig auf der Strecke. Das merke ich im Matheunterricht enorm. Mathematik folgt bekanntermaßen logischen Prinzipien, bei dem es z. B. für mich nicht sinnvoll ist das 1x1 auswendig zu lernen. Genau das passiert jedoch. Die Kinder lernen Lieder, in denen sie das kleine Einmaleins auswendig lernen, anstatt den Prozess dahinter tiefer zu beleuchten, damit sie Probleme (in dem Beispiel die Matheaufgabe (z.B. 6x4)) selbstständig lösen können. Auswendig lernen hilft nämlich nur in sofern man sich in dem gelernten Rahmen bewegt. Was passiert wenn auf einmal eine höhere Aufgabe wie 15x12 auf mich wartet? Und was mir persönlich auch überhaupt Spaß am Lernen bereitet: Verstehe ich eigentlich was dahinter steckt und kann ich daraus sogar Schlussfolgerungen ziehen? Also wie gesagt, übergeordnet den eigenen Denkprozess anregen und auch mal über den Tellerrand hinaus schauen. Das alles ist nun ziemlich überspitzt dargestellt, aber ich hoffe ihr versteht worauf ich hinaus möchte. Ich versuche den Kindern immer wieder zu vermitteln, denkt über eure Antworten nach. Oft gehen nämlich Hände nach einer von mir gestellten Frage blitzartig hoch und es wird einfach das Erstbeste, was ihnen in den Sinn kommt, in den Raum gerufen. Anschließend hinterfrage ich dann die Antworten mit "Wie kommst du darauf?", um den Denkprozess in Schwung zu bringen... Anschließend oft Stille. Das ist ein Prozess, bei dem ich aber jetzt schon Erfolg sehe. Ich gebe den Kindern nun oft mehr Zeit, zum Nachdenken und sage eindringlich "Take your time and use your brain". Vielen sehe ich an, dass es dann rattert und ich glaube sie verstehen was ich von ihnen möchte. Dabei hole ich sie auch gerne an die Tafel und versuche mit ihnen gemeinsam Themen zu erarbeiten. Bis jetzt hatten wir die Themen "große Zahlen" (bis 1.000.000) in Schrift, Sprache und Zahlen, "Runden" (siehe Bild Korrektur oben), "Römische Zahlen" und sind jetzt bei "Faktoren von Zahlen".

Ich muss auch hier offen gestehen, dass es bereits einige Momente gab, bei denen ich verzweifelt bin und damit nicht richtig umzugehen wusste. Ich habe sowohl an der Tafel als auch im Unterrichtsgespräch mit den Schülern Aufgaben durchgesprochen und gelöst. Anschließend habe ich zur Vertiefung gleiche Aufgabentypen mit anderen Zahlen zum Selbstlösen aufgegeben, die ich danach zur Korrektur bekam. Die Lösungen haben mich teilweise wütend gemacht, und ich habe es fast schon persönlich genommen. Ich dachte wirklich manchmal "Willst du mich verarschen?". Wir haben zehn Minuten vorher genau diese Aufgabe mit minimal unterschiedlichen Zahlen durchgekaut und nun wird keine einzige Aufgabe richtig beantwortet. Ich zweifelte auch an mir selbst. Ich versichere mich nämlich auch häufig, "Hast du das verstanden?" und bekam immer ein "Ja".  Nun weiß ich, dass dieses Ja nicht immer stichhaltig ist und ich deswegen noch eindringlicher frage und nun schneller merke ob mir jemand folgen kann oder nicht. Ich nehme mir jetzt auch mehr Zeit um Kindern, die für das Verstehen von Themen etwas länger brauchen, in der Arbeits- oder Korrekturphase mittels Einzelgespräch zu helfen. All das ist wie gesagt ein Prozess für mich, in dem ich noch mittendrin bin, bei dem es mir aber wirklich am Herzen liegt, dass die Kinder das Gelehrte verstehen. Hier geht es nämlich wieder nicht um mich, sondern die Kinder haben einen Anspruch auf einen guten Unterricht, was deutlich im Vordergrund steht. Mein Freiwilligendienst und meine Befindlichkeiten können den Kindern dabei herzlich egal sein. Wobei ich immer mehr spüre, dass dem nicht so ist. Ich habe das Gefühl zur gesamten Klasse aber auch zu einzelnen eine Bindung aufzubauen. Andersrum wahrscheinlich ebenso. Letztens gab es eine Stunde in der ich es nicht wirklich geschafft habe, die Klasse zur Ruhe und somit zum Unterricht zu bewegen. Ich war enttäuscht von mir aber auch ein wenig von der Klasse, weil wir für diese Stunde eigentlich klare Absprachen hatten. Sie sind während des Unterrichts ruhig und arbeiten mit, dafür gebe ich keine Hausaufgaben auf und entlasse sie etwas früher in die Pause. Sie waren nach mehreren Ermahnungen nicht bereit den Teil ihrer Abmachung einzuhalten. Ich setzte mich schweigend auf meinen Tisch und ließ meinen Blick durch die Klasse schweifen während viele mit anderen Dingen beschäftigt waren. Ich saß einfach nur da und wartete, bis sie begriffen, dass ich gerade verletzt bin. Als ich ohne ein Wort die Aufmerksamkeit zurückerlangte, sagte ich ihnen, dass ich für heute keinen Unterricht mehr machen möchte, ging hinaus und holte einen anderen Lehrer, der den Unterricht fortführte. Die restliche Stunde herrschte Totenstille und ich glaube sie begriffen was ich damit erreichen wollte. Eine Schülerin übergab mir nach der Stunde folgenden Brief, was mich sehr gerührt hat.

Am nächsten Tag lag ich leider flach und musste zuhause bleiben. Als Max ihnen das mitteilte, fragten sie ihn ob sie mit mir über sein Handy Videotelefonieren könnten. Also tauschten wir uns kurz aus und sie wünschten mir eine schnelle Genesung. Es ist wirklich schön mitzuerleben, dass die Kinder einen anscheinend wertschätzen und einen doch gern haben, obwohl man sie ja so häufig von ihrem Gelächter und Spaß zu etwas Ernsthaftigkeit drängt. Ich kriege auch nicht selten Kleinigkeiten an Süßigkeiten zugesteckt, was ich nicht immer annehmen kann, aber trotzdem als eine schöne Geste erachte. Ich muss sagen, so anstrengend es manchmal ist, so viel bekomme ich bislang auch zurück, wenn nicht sogar noch mehr. Es ist schon ein schönes Gefühl jeden Morgen in die Klasse zu kommen und mit einem Lächeln und Umarmunge begrüßt zu werden.

Im Deutschunterricht, der nur wenige Stunden in der Woche ausmacht, versuche ich den Kindern die absoluten Basics beizubringen. Mir ist bewusst, dass das Gelehrte nur in den geringsten Fällen auch tatsächlich in den Leben der Schülern zur praktischen Anwendung kommen wird. Der Schuldirektor war jedoch begeistert von der Idee, da sich die Schule damit auch von der Konkurrenz abheben könne. Ich finde es auch teilweise sinnvoll, da die Kinder sowohl zuhause als auch auf dem Schulhof anwenden können. Ich werde beispielsweise jeden Tag mit einem "Guten Morgen" begrüßt und einem "Tschüss, bis bald" verabschiedet. Wenn ich in eine Klasse von Samu oder Max reinstolpere, freuen sich die Kinder ihre dürftigen Deutschkenntnisse zur Schau zu stellen. Total süß. Außerdem sind viele auch wirklich interessiert und fragen bestimmte Wörter oder Sätze nach. Das Fach wird jedoch nicht benotet und stellt keine Abschlussprüfung dar, ist für die Kinder und uns aber ein netter Zusatz, bei dem wir uns besser kennenlernen können. Letztens habe ich zum Beispiel auch mit ihnen über Weihnachten in Deutschland oder meiner Familie und unseren Gepflogenheiten gesprochen. Andersrum lerne auch ich dann von ihnen Insides kennen und sammle einige Fetzen der Einheimischensprach Twi auf. Ein Kulturaustausch auf persönlicher Ebene. Mir macht es viel Spaß!

körperliche Gewalt

Dieser Absatz zählt vermutlich zu den Schwierigsten, die ich verfassen werde. Körperliche Gewalt gegenüber Kindern zählt hier nämlich noch zum Alltagsprogramm. Sowohl in der Schule als auch in einigen Familien. Es wird als Instrument der Züchtigung eingesetzt. Sowohl mit einem Stock als auch mit der Hand. Ich sehe beides beinahe täglich. Ich versuche bei diesem heiklen Thema zuerst sachlich zu schildern um anschließend meine persönliche Note einfließen zu lassen.

Der Lehrer in meiner Klasse bevorzugt nach einem "Fehlverhalten" Stockschläge auf die Innenhand oder des hinteren Oberschenkels/der Kniekehle. Aber auch Faustschläge auf die Schulter oder den Rücken um diese zum Platz nehmen zu animieren gehören dazu. Die Kinder fangen danach nicht selten zu weinen an und begraben ihr Gesicht meistens vor Schmach in ihren Armen auf dem Tisch und verharren dort minutenlang. Niemand, den es interessiert oder der Mitgefühl zeigt. Der Unterricht läuft anschließend weiter als wäre nichts passiert. Nach einigen Minuten besinnen sich die Kinder wieder und nehmen normal am Unterricht teil. Dazu sei gesagt, dass die Lehrer augenscheinlich bei der Wucht der Schläge nicht mit ihrer gesamten Kraft ausholen. Ich habe auch noch keine körperlichen Wunden o. Ä. die daraus entstanden sind gesehen. Ich glaube der Fokus liegt bei dieser Praktik eher auf der Demütigung und die Ausübung der Autorität, die von einem körperlichen Schmerz begleitet werden soll. Das ist hier tatsächlich in vielen Schulen verbreitet. Ich könnte jetzt noch viel "Gehörtes" mit euch teilen, besinne mich aber hier nur auf dem "Gesehenen", da ich das mit eigenen Augen gesehen und somit auch nur das wahrhaftig bestätigen kann.

Für mich, der in seinem Leben fast nie mit körperlichen Schmerzen, die mir von anderen Menschen bewusst zugefügt wurden, konfrontiert wurde, ist das ein ganzschönes Brett. Ich kann nur erahnen wie es den Kindern mit diesen oft völlig einsamen Momenten nach der Gewalteinwirkung gehen muss. Dabei glaube ich ist der seelische Schmerz viel tiefgehender als der körperliche. Ich saß am Anfang wie in Schockstarre als ich begriff was gerade vor sich geht. Daran werde ich mich auch nicht gewöhnen können, jedes Mal muss ich wegschauen und meine Augen schließen. Ich verachte jede Form der Gewalt, körperliche ist für mich jedoch die offensichtlichste und am einfachsten zu verhindernde Form. Autorität und Kontrolle kann ich mir auch in anderer Form erarbeiten. Hier wird leider noch diese Variante gewählt und gehört somit zum festen Bestandteil des Denken und Handelns.

Der Lehrer sagt mir immer halb im Spaß aber vermutlich mit einem ernsten Hintergedanken, ich müsse die Kinder schlagen, damit sie auf mich hören. Die afrikanischen Kinder seien nämlich anders als die europäischen und lernen eben nur so. Logischerweise verneine ich das vehement. Ich bin jedoch auch hier nur ein Gast dieses Kontinents, dieses Landes, dieses Ortes, dieser Schule und dieser Klasse. Somit kann ich natürlich meine Meinung kundtun, aber in meiner Funktion als Volunteer, niemanden vorschreiben was er zu tun und zu lassen hat.

An einem Tag hat die Klasse mit dem Lehrer über dieses Vorgehen diskutiert. Plötzlich fragte mich ein Schüler ob wir in Deutschland in den Schulen geschlagen werden. Alle Blicke waren auf mich gerichtet und ich schüttelte vorsichtig und fast schon beschämt den Kopf. Der Aufschrei war groß. Einen anderen Tag war der Lehrer nicht da und ich leitete vormittags den Unterricht. Ich ergriff die einsamen Stunden zwischen der Klasse und mir und fragte nach den Hintergründen, Gedanken und Gefühle der Schüler bezüglich körperlicher Gewalt. Einige offenbarten mir, dass sie auch regelmäßig von den Eltern, hauptsächlich dem Vater geschlagen werden. Ganz wenige sagten, dass sie keiner Gewalt ausgesetzt sind. Eine Schülerin sagte "sometimes my parents don't feel like parents" ("manchmal fühlen sich meine Eltern nicht wie Eltern an"). Es entwickelte sich ein offenes Gespräch, bei dem jeder was zu sagen versuchte und mir seine Geschichte zu offenbaren. Das war in dem Umfang natürlich nicht möglich, aber ich bekam den starken Eindruck dass das bei diesen Kindern ein großes, belastendes Thema ist. Jeder berichtete unterschiedliches, aber im Grunde doch das Gleiche: Der Schmerz, vor allem von geliebten Menschen dringt unglaublich tief. Ich fragte, ob sie, wenn sie einmal Eltern werden sollten, ihre Kinder schlagen würden. Sie antworteten alle konsequent mit Nein. Ich fragte, ob ich ihnen einen "advice" (Ratschlag) geben darf, ohne zu wissen, ob ich als Außenstehender dazu befugt oder in der Lage bin. In dem Moment hat es sich jedoch richtig angefühlt. Ich sagte ihnen, dass sie den Schmerz, den sie in solchen Momenten spüren, niemals ihren Nachfahren antun sollen und dass sie die Generation werden können, die einen Wandel hervorruft. Dabei erklärte ich ihnen, dass körperliche Gewalt vereinzelt in meiner vorherigen Generation, also derer meiner Eltern, aber ganz sicher meiner Großeltern auch gang und gäbe waren. So ein grundlegender Wandel benötigt vor allem eins: Zeit. Ähnlich wie unser momentaner Wandel, hin zu mehr Bewusstheit für psychische Gewalt und Erkrankungen (zum Glück!!). Zum Schluss hatte ich noch das starke Bedürfnis mich für das Erlebte zu entschuldigen.

Ich kann mir vorstellen wie es auch für dich sein muss diese Zeilen zu lesen. Mir erging es nicht anders und fiel es schwer nicht vor den Kindern meinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Ich versuchte einen Übergang zum Unterricht zu finden und mir nicht allzu viel anmerken zu lassen. Das Training und der Nachmittag waren für mich an diesem Tag gelaufen. Ich werde mit so vielem konfrontiert, was mir vorher bewusst war, jedoch nicht, wie sich das Erlebte auf mich auswirken wird. Manchmal ist es hart. Manchmal weine ich viel und wünsche mich in meine Wohlfühloase zurück. Wie widerlich priviligiert. Aber ich glaube menschlich.

Du und ich können die Welt nicht retten, aber was wir mit Sicherheit tun können ist es nicht wegzugucken. Überall passieren Ungerechtigkeiten, in Ghana, Tokyo oder bei dir vor der Haustür. Mit Sicherheit auch hinter Haustüren. Hinzuhören, hinzuschauen und dem Offensichtlichen vehemment entgegenzustehen und gleichzeitig Opfern von jeglicher Gewalt ein Gehör und Mitgefühl zu schenken, lassen Täter spüren, dass ihr Verhalten nicht erwünscht ist. Ich, als Erwachsener (meistens) spüre nämlich eine Verantwortung gegenüber Kindern und Menschen, die sich nicht wehren können. Die Täter sind sich den Konsequenzen nämlich oft nicht bewusst und handeln vermutlich aus eigener Unsicherheit oder Angst. Ich glaube, so kann jeder Einzelne einen Beitrag zu einer friedlicheren Gesellschaft leisten. Das erscheint mir für dich, mich und unseren Nachfahren sehr erstrebenswert.

Aus diesem Anlass gibt es zum Schluss ein Kinderlied, in dem es um Frieden und Gleichberechtigung geht. Unterm Strich sind wir nämlich alle eins.

 

Karibuni - Wir sind eins
"...wir sind so verschieden wie Palme und Eiche,
wir sind so verschieden wie Sonne und Regen,

und doch wollen wir alle in Frieden leben..."

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Kommentare

Bianca Fehse
Vor 7 Monate

❤️❤️❤️❤️sehr schön und menschlich geschrieben . Hdl 😘

Marcel Fehse
Vor 7 Monate

Lieber Justin,

deine Berichte sind unglaublich fesselnd, spannend, aber auch auf den Punkt nachvollziehbar geschrieben. Ich freue mich schon auf den nächsten Erlebnisbericht von dir, du hast die unfassbare Gabe, Menschen mit deinen Berichten für deine Geschichte zu begeistern und sie auf deinem Weg verbal mitnehmen zu können. Schön, dass dir der „Job“ als Lehrer so viel Spaß macht.

Abschließend: Gewalt unter uns gibt es leider schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Auch wenn diese Erfahrungen in der Praxis für dich bisher sicherlich glücklicherweise komplett unbekannt war, so bin ich davon überzeugt, dass du auch aus dieser komplizierten Situation die richtigen Schlüsse für deine Zukunft ziehen wirst.

Ich glaube, dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten in der Lage ist, die Welt ein bisschen nach vorne zu bringen.

Freue mich auf deine nächsten Berichte!

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